Gräber
Insbesondere die Welt der Ahnen hat im Leben der meisten Einwohner auf Madagaskar eine herausragende Bedeutung, die sich auf alle Bereiche des Lebens erstreckt. In der Vorstellungswelt der Madagassen gibt es keine Hölle und kein Paradies, aber auch keine Wiedergeburt, vielmehr glauben sie, nach dem Tode im Reich ihrer Ahnen (Razana) mit diesen vereinigt zu werden und von dort aus über die Lebenden zu wachen.
Durch diese ständige Präsenz im Alltag, ist daher der Kontakt zu den Ahnen unverzichtbarer Bestandteil des Lebens, was sich in verschiedene Opferriten, Orakeln und besonders bei der Grabkultur auf Madagaskar ausdrückt.
Gräber und Gruften sind nicht nur Orte der Andacht oder spezieller Riten auf Madagaskar (wie die Famadihana) – als Ruhestätte der Ahnen kommt ihnen ein weit höherer Stellenwert zu, als den Häusern der Lebenden. So wurden Steinhäuser in Madagaskar erst im 19. Jahrhundert populär, davor hatte man Steine nur für Grabbauten verwendet, für die Lebenden war Holz „gut genug“!
Die Gräber finden sich meist außerhalb der Siedlungen an sehr verstreuten Plätzen aber sie können auch den Mittelpunkt der Dörfer darstellen, sich an den Reisfeldern befinden, unter riesigen Felsplatten im Gebirge sein, sich in Felsspalten & Höhlen befinden. Oft sind sie mit Zebuschädeln geschmückt, was auf den Reichtum des Verstorbenen hinweisen soll. Bei den Hochlandbewohnern ist es aber auch zum Teil Sitte, Zebuschädel zur Warnung und als Siegel der Unantastbarkeit an den Gräbern zu platzieren.
Famadihana-das Wiedersehen mit den ahnen
Totenumbettung oder Leichenwende, die Famadihana, ist sicherlich der Brauch auf Madagaskar, der uns Europäern am fremdartigsten erscheint, gilt uns doch hierzulande die Ruhe der Toten und die Unantastbarkeit der Gräber als etwas Heiliges.
Auf Madagaskar ist die Welt der Ahnen mit der Welt der Lebenden eng verbunden. Das Wiedersehen mit den verstorbenen Mitgliedern der Familie ist ein absoluter Höhepunkt, das soll auch den Zusammenhalt der Lebendigen stärken.
Auf Madagaskar ist die immense Bedeutung der „Razana“, der Ahnen, fest im alltäglichen Leben der Menschen und der Gemeinschaft verankert. Wer sich jedoch die immense Bedeutung der Ahnen für das alltägliche Leben der Einwohner in Madagaskar vor Augen führt, dem wird sehr schnell klar, dass hier die Gemeinschaft der Madagassen mit ihren Ahnen die höchste und stärkste Manifestation erfährt, und die Menschen daher ein Bedürfnis danach haben, ihrer Ahnen zeitweilig auch ansichtig zu werden.
Dass dies auch ein gegenseitiger Aspekt ist zeigt der Umstand, dass bei der Famadihana den Ahnen diejenigen vorgestellt werden, die seit der letzten Umbettung zur Welt kamen. Die Ahnen werden mit Geschichten und Informationen „versorgt“, und das allgegenwärtige Rumopfer fließt dabei nicht nur in die Erde, sondern reichlich in viele Kehlen.
Die Famadihana wird nicht nur im Hochland von Madagaskar praktiziert, es gibt sehr verschiedene Varianten in fast allen Volksstämmen von Madagaskar, und es würde viel zu lange dauern, um sie alle auch nur kurz zu beschreiben.
Es gibt auch regionale Abwandlungen wie die Waschung der königlichen Gebeine (fitampona) bei den Sakalava. Neben dem Öffnen der Gräber, was angesichts der Lage mancher Gräber, bei den Bara zum Beispiel in Höhlen inmitten eines steilen Felshanges, oft ein lebensgefährliches Unterfangen ist, stellt die Bekleidung der Gebeine mit neuen kostbaren Grabtüchern, den Lamba mena (rotes Tuch) den eigentlichen Kern der Feier dar.
Die Famadihana wird in Abständen von 3,5,7 bis 9 Jahren, oft auch unregelmäßig, abgehalten: stellt man sich den immensen Aufwand vor, den eine Familie treiben muss, um das ganze Dorf mit reichlich Speise und Trank zu versorgen, wird die wirtschaftliche Problematik dieser Tradition deutlich!
Die Kosten der Feiern treiben die Familie oft in jahrelange Schuldknechtschaft und hemmen so jeden wirtschaftlichen Aufstieg. Dies umso mehr, als sie sich immerzu wiederholt – manche Madagaskar-Kenner haben behauptet, dass es diese Tradition sei, die Madagaskar am meisten in seiner Entwicklung behindere…. Jedoch muss gesagt werden, dass – wie alle Traditionen – auch diese zusehends an Bedeutung verliert, die enormen Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung lassen auch hier eine Abkehr von den alten Sitten, vor allem seitens der Städter, erkennen. Oft ist es auch die schiere „Vernunft“ und die Annahme einer modernen und pragmatischeren Weltsicht durch immer mehr Madagassen, die sich hier zeigt.
Der Ablauf einer Totenumbettung bei den Merina auf Madagaskar
Der Anlass zum Fest kann durch einen Traum eines Familienmitgliedes beginnen, wenn zum Beispiel ein Familienmitglied im Traum Besuch von einem verstorbenen Verwandten erhalten hat. Dieser kann sich beschwert haben, dass er friere und hungrig sei, dass er sich vergessen fühle, oder dass seine Tücher schmutzig sind. Ein Familienrat wird sofort einberufen und die Mitglieder entscheiden, ob der Moment für die Umbettung günstig ist, danach entscheiden dann noch die örtlichen Astrologen wie und wann die Feier genau stattfinden sollte und welchen Ablauf sie haben müsste.
Danach werden alle weiteren Familienmitglieder benachrichtigt, und diese machen alles was möglich ist, um an der Feier teilnehmen zu können, sogar diejenigen die im Ausland leben, verpassen in keinem Fall die Zusammenkunft mit ihren verstorbenen Ahnen.
Viel Geld muss angespart werden, und oftmals stürzten ärmere Familien langfristig in Armut und Schulden, der Aufwand lohnt sich trotzdem für die betroffenen Familien, durch das gesteigerte Ansehen der Dorfgemeinschaft, und natürlich durch den Dank der Ahnen.
Meistens wissen die Leute genau, wann die nächste Totenumbettung stattfindet, sie wurde nämlich schon bei der letzten Feier beim Zusammenbinden der Totentücher entschieden. Wenn der Tote dreimal gebunden war, ist die nächste Feier in drei Jahren, sie kann alle drei Jahre oder alle fünf, sieben oder neun Jahre stattfinden.
Am Vorabend der Feier begeben sich die ältesten Familienmitglieder zum Grab und erklären den Toten, wer am nächsten Tag auf Beschluss der Familie aus dem Grab kommt, und wer von den Lebendigen an der Totenfeier teilnimmt. Wie überall auf Madagaskar ist eine Feier ohne gute Reden nicht denkbar, gute Redner sind sehr hoch angesehen.
Am nächsten Morgen werden die zwei schweren Steintüren der Familiengruft geöffnet, es schwebt eine Fahne auf dem Dach der Grabstätte, und die ältesten und angesehensten Persönlichkeiten stehen darauf und halten Reden. Der Bürgermeister ruft die Namen der Verstorbenen aus, die aus dem Grab getragen werden, Männer der Familie gehen einer nach dem anderen und holen die gebündelten und eingewickelten Toten ans Licht.
Familienmitglieder, eingeladene und nicht eingeladene Gäste, neugierige Passanten, Kinder, und sogar Ausländer beteiligen sich gerne, für die Familie ist es eine Ehre, wenn viele Leute am Fest teilnehmen, und ganz besonders wenn Europäer beteiligt sind steigert das erheblich das Ansehen der Familie, und deshalb sind sie immer willkommen.
Die Anwesenden spenden einen kleinen Geldbetrag in einem Umschlag an die Familie, alles wird genau aufgeschrieben, und die Spender bekommen eine gleichwertige Spende, wenn ihre Toten umgebettet werden.
Während die Toten in ihren Tüchern eingewickelt im Schatten warten, begeben sich die Gäste zum Mittagessen. Unmengen von Reis und anderen Zutaten werden gegessen, die Flöten, Trommeln, Klarinetten und Trompeten der Musikanten spielen fröhliche Rhythmen, es ist ein sehr fröhliches Fest, und Trauer ist sehr schlecht angesehen. Die Musik ist so laut, dass sie Tote erwecken könnte, und das ist ja wahrscheinlich auch vorgesehen. Die Leute strömen von überall her und singen, trinken und tanzen, die Toten werden berührt, man erzählt ihnen alles, was im Dorf seit ihrem Tod oder seit der letzten Umbettung geschehen ist. Je nach Volksstamm können der Ablauf und die Riten total verschieden sein, ich beschreibe jetzt nur eine Umbettung, wie sie im Hochland Tradition ist.
Die Ahnen liegen inmitten der tanzenden Menge von überglücklichen Madagassen auf Strohmatten, ältere Männer, deren Eltern noch leben, kümmern sich mit unendlich viel Andacht und Respekt um die Körper der Ahnen, die Tücher sind beschriftet, damit man weiß wen sie enthalten. In manchen Tüchern befinden sich zwei Leichen, die Ehepartner, die sich nach dem Tod wiedergetroffen haben, und auf ewig vereint bleiben.
Im Hochland werden neue Tücher über die alten getan, von diesen Tüchern werden dann mit einer Rasierklinge schmale Streifen abgeschnitten, die zum Festbinden benutzt werden, und deren Zahl die Jahre bis zur nächsten Umbettung symbolisiert. Früher waren diese Tücher aus roter Wildseide (Lamba Mena) gefertigt, heutzutage sind es oft billige synthetische Tücher. Am Ende des Nachmittags werden die Toten oft durch das Dorf getragen, die Leute singen und tanzen mit Ihnen, heben sie mit gestreckten Händen über ihre Köpfe und geben sie anderen Mitglieder der Familie, die den Tanz weitermachen.
Die Leute sind total glücklich miteinander.
Nachdem die Toten sieben Mal mit den Lebendigen um das Grab getanzt sind, kommen sie wieder in ihre Ruhestätte zurück, und das muss vor Sonnenuntergang geschehen sein. Im Grab drinnen befindet sich eine Art Regal auf drei Stufen, selbstverständlich haben sie nach ihrem Rang und ihrer Bedeutung in der Welt der Ahnen einen bestimmten Platz. Die Eltern und Großeltern sind im nördlichen Teil, die Söhne sind im Osten, unverheiratete Töchter sind im Süden, und der Westen bleibt immer als Richtung für den Eingang frei.
Sehr viele Tabus sind mit den Gräbern und den Ahnen verbunden: der Eingang einer Gruft soll nie gegenüber einer Behausung stehen, sonst werden die Lebenden in den Tod gezogen, man soll nie mit einem ausgestreckten Finger auf ein Grab zeigen, man soll nie auf geradem Weg vom Dorf zum Grab gehen, sonst kann der Tod einem leicht folgen, Polygamie (uneheliche Frauen oder 2. Heirat) im Grab ist streng tabu. Männliche Kinder, die nicht beschnitten sind, dürfen nicht ins Grab, und das gleiche gilt für Mädchen, die keine Löcher für Ohrringe in den Ohren haben.
Die eingewickelten Toten werden in Strohmatten ins Grab getragen, und diese werden nach dem Einordnen der Toten wieder hinausgetragen, die jungen Frauen wollen diese Matten, wo die Toten drauf gelegen haben, sehr gerne als Unterlage zum Schlafen benutzen.
Das bringt Ihrer Meinung nach Fruchtbarkeit und viele Kinder. Sehr viel Glauben und Aberglauben ist mit der Welt der Ahnen eng verbunden, wenn die Grabtüren zugemacht werden und die Dichtungen mit Zement verschlossen werden, darf der Maurer nur nach oben Richtung Himmel den Zement aufstreichen, das symbolisiert die Welt der Lebendigen, nach unten zur Erde die Welt der Toten.
Die Hände und das Gesicht müssen gründlich gewaschen werden nach einer Famadiahana.
Es ist unerträglich, wenn die Körper der Verstorbenen nicht in Berührung mit den Ahnen kommen können, das kam oft während den beiden Weltkriegen vor, wo die Madagassen mit anderen Afrikanern als „Kanonenfutter“ für die französische Kolonialmacht gedient hatten. In dem Fall werden steinerne Statuen der Verstorbenen (oft in erkennbaren Uniformen mit Käppchen) neben den Gruften eingeweiht, und die Verstorbenen sind dann angesehen, als ob der Körper in der Gruft vorhanden wäre.
Die Toten werden in Särgen (meistens einfache Kisten aus ungeschliffenen Brettern) transportiert. Wenn man an einem Sammeltaxi vorbeifährt, das eine einheimische Flagge auf dem Dach wehen lässt, weiß jeder, dass eine Leiche auf dem Dach, inmitten von anderem Gepäck der übrigen Passagiere, transportiert wird. Die Särge kommen nie in die Gräber, sie verrotten irgendwo daneben und manchmal auf den Dächern der Gruften.
Der Ablauf ist wie schon vorher gesagt sehr verschieden von einem Volksstamm zum andern und von einer Gegend zur anderen. Die Totenumbettungen finden zwischen Juni und Anfang September statt, das heißt im südlichen Winter.
Fady
Jeder Madagaskar-Reisende sollte sich vor Antritt der Reise über die Bedeutung bestimmter Tabus, der fady, klarwerden. Der Begriff selber wird dabei eigenartigerweise von kaum einem Madagassen je in den Mund genommen und ausgesprochen. Man redet dann eben von Tabu. Fady sind religiöse Verbote, die bestimmte Orte oder Handlungsweisen betreffen. So ist es sehr häufig an heiligen Orten auf Madagaskar verboten, Schweinefleisch oder Salz mitzubringen oder zu verzehren (z.B. auf dem Rova in Antananarivo) oder mit Schuhen zu gehen. Auch Frauen, besonders während ihrer Monatsblutung, ist das Betreten vieler Orte auf Madagaskar untersagt. Fady ist es zum Beispiel:
Auf geradem Wege von einem Grab ins Dorf zu gehen: der Tod findet sonst allzu leicht den Weg ins Dorf. Oft markieren Zebuschädel Orte des fady – manches ist aber auch nicht so einfach zu erkennen. Wer ein fady auf Madagaskar bricht, hat schwere Schuld auf sich geladen, die er – wenn überhaupt! – nur durch ein Zebuopfer von sich waschen kann! In aller Regel wird man den Reisenden auf Madagaskar aber vor dem Betreten einer interessanten Örtlichkeit auf die geltenden Verbote hinweisen, und man muss nicht befürchten, ein Sakrileg zu begehen.
Falls es Ihnen möglich ist, gewöhnen Sie sich auf Madagaskar an, auf nichts und niemanden mit dem Finger zu zeigen – und deuten statt dessen mit der ganzen Hand oder der Faust in die gemeinte Richtung: Besonders ein Fingerzeig in Richtung eines Grabes gilt als fady, im Bemaraha-NP darf auf gar nichts mit dem Finger gezeigt und keinesfalls irgendetwas aus dem Gebiet mitgenommen werden! Auch wenn Sie dies für Hokuspokus halten – beachten Sie die Gebote und Traditionen der Menschen auf Madagaskar !